Die Vegetarierin - nach dem gleichnamigen Roman von Han Kang

Über Nacht hört Yong-Hye auf Fleisch zu essen. Es ist der erste Schritt der jungen koreanischen Frau hinaus aus ihrer Kultur, aus der Gesellschaft ihres Landes, aus ihren Zwängen, aus dem von außen vorgegebenen Selbstbild, aus einer genormten Körperlichkeit. Ihr gesamtes bisheriges Erwachsenenleben war Yong-Hye zuverlässige Ehefrau, gehorsame Tochter, unauffälliger Teil der Stadtgesellschaft. Doch dann verschiebt sich etwas – zunächst nur in ihrer Wahrnehmung: Fleisch erscheint ihr nicht mehr als Nahrung, die Regeln ihrer Familie sind ihr plötzlich fremd. Kleidung wird immer mehr nur noch Schutz vor Kälte. Nach und nach fallen alle konventionellen Schranken. Vom Menschen wird sie zu einem sanften Tier und schließlich zur Pflanze. Ihrer Wehrlosigkeit und Hingebung steht eine erbarmungslose Gesellschaft gegenüber, deren grausame Zwänge der Familie, der Kultur und der Psychiatrie sie zur Normalität zwingen wollen und ihr schließlich das Leben nehmen. »Ich bin kein Tier, große Schwester«, flüsterte Yong-Hye als sei dies ein wichtiges Geheimnis. »Ich brauche keine Nahrung. Ich kann ohne leben. Ich brauche nur Sonne. (...) Bald werden das Sprechen und das Denken verschwunden sein. Es wird nicht mehr lange dauern.«

»Die Vegetarierin« von Han Kung, in diesem Jahr ausgezeichnet mit dem britischen Man Brooker Preis, stellt unser aller Lebensweise in Frage. Der Roman ist einfach, direkt, verschlungen und duftend, erotisch und über alle Maßen brutal. Er ist ein Aufstand gegen gesellschaftliche Normen, nicht nur die Koreas, sondern auch der unsrigen.

INSZENIERUNG Jan Meyer